title: Vitruv als Kunstkritiker und Mensch der Antike creator: Taruashvili, Leonid Iosifovich subject: ddc-700 subject: Arts subject: Italy subject: Painting subject: Vitruvius subject: Wandmalerei subject: Römisches Reich, Kunstkritik, Klassizismus, Groteske description: Vitruv als Kunstkritiker und Mensch der Antike Der die Probleme der Wandmalerei in 7. Buch seines berühmten Traktats erörternde römische Baukünstler und Ingenieur Vitruv (1. Jh. v. Chr.) weist entschieden solche Art der Innenraumbemalung zurück, die sehr à la mode in seiner Zeit wurde und heute unter dem Namen Grotesken weit bekannt ist. In Erwägung der im Traktat vorherrschenden klassischen Einstellung könnte man diese Abneigung des Autors gegen Erzeugnisse unregelmäßiger und alogischer Einbildungskraft als seinerseits ganz gesetzmäßigen und zu erwartenden Rückschlag betrachten. Es ist kein Wunder, dass Vitruv die Grotesken genau für augenscheinliches Fehlen der Lebensähnlichkeit missbilligt, die letzte sei doch von dem Gesichtspunkt der klassischen Ästhetik betrachtend eine wesentliche Eigenschaft der wahren Bildkunst. Wunderbar ist, daß Vitruv, indem er folgenden Schritt macht und riesige Popularität der Grotesken erläutern versucht, sofort in krassen Widerspruch mit seiner eigenen Alltagserfahrung gerät. Denn er behauptet kategorisch, dass die Künstler sowie Kunstliebhaber darum sich durch Grotesken begeistern, dass sie Unwahrscheinlichkeit solcher Gestalten selbständig (d.h. wenn sie der Aufklärungen seitens der ihm ähnlichen Literaten entbehren) einzusehen nicht imstande sind. Weil aber diese Unwahrscheinlichkeit (d.h. die auf dünnen Rohrstängeln ruhende Dächer der Häuser oder aus der zarten Blumen wachsende Statuetten) ohnehin anschaulich ist, muss dieser Vitruvs Urteil präsumieren, dass sie alle nicht einfach Dummköpfe, sondern schwachsinnige, hilflose und lebensunfähige Ebenbilder der Folklorenarren (in der Art von Schildbürgern) seien. Ist solche seltsame Prämisse des gelehrten Autors vereinbar mit allem, was ihm über diese Erbauer der römischen Größe, die bis jetzt für ihren gesunden Menschenverstand, Umsicht sowie Unternehmungsgeist mit Recht gepriesen wird, ohne Zweifel bekannt war? Gewiss nein. Aber wenn dem so ist, warum er dann diese offenbar unbillige These als Grundlage für seine Erwägungen sicher benutzt? Auf diese Frage zu antworten heißt das Licht auf Hauptursache sowohl des nachfolgenden Verfalls der klassischen Kultur in der Antike als auch des allmählichen Vergessens des klassischen Erbes in modernen Zeiten zu werfen. Erstens muss betont werden, dass es keine logische Notwendigkeit gibt, die den Vertreter der klassischen Ästhetik, möge er ein radikalster sein, aus eigenen Prinzipien irgendeinen abschätzigen Schluss betreffend geistige Fähigkeiten solcher Menschen zu ziehen verbindet, die seine ästhetischen Ab- und Zuneigungen nicht teilen. Auch die folgerichtigste Kritik der antiklassischen Kunstrichtungen kann sich mit dem, was man Präsumtion der geistigen Vollwertigkeit bezeichnen darf, ganz natürlicherweise vereinigen. Ein der solche Möglichkeit bestätigenden Beispiele ist die zeitlich von uns noch nicht zu lange entfernte H. Sedlmayrs Kritik der Avantgarde, die als erbarmungslos gegenüber Phänomen selbst, doch dabei gar nicht erniedrigend gegenüber seine Anhänger hervortritt. Die Sache liegt darin, dass jahrhundertelange Erfahrung der Geisteswissenschaften die Menschen wie Sedlmayr gelehrt hat, jedes ihr Urteil, wie auch negativ dieser sein könnte, durch Anstrengungen der Empathie und Verständigung vorwegzunehmen. Was aber den Römer Vitruv betrifft, war ihm solches Herantreten noch völlig unbekannt und fremd. Von historischem Schicksal wurde er Auge in Auge vor einem ästhetischen Phänomen gestellt, dessen Wesen ganz außer den Grenzen seines Einsichtvermögens lag. Auch wenn er eine lange und mühsame Reise nach Enträtselung dieses Phänomens gewagt hätte, würde sie unausweichlich misslungen und hätte mit sich vielleicht obendrein den Verlust seiner felsenfesten Überzeugungen gebracht, aber ohne geringste Hoffnung, das Verlorene mit Neugewonnenem aufwiegen. Mittlerweile soll er als Mensch der Antike, für den philosophische Universalität mit festem Zusammenhang sie bildender Ansichten sowie eine genaue weltanschauliche Klarheit unentbehrliche Bedingungen seiner intellektuellen und moralischen Selbsterhaltung waren, einen Widerwillen gegen alles Unklare und Zweideutige und beziehungsweise eine ausgeprägte Vorliebe für deutliches Bild der ihn umgebenden Welt gehegt haben. Klarheit war also für Vitruv eine notwendige Grundlage seiner psychischen Identität. Und eben mit dem Zweck, diese Identität vor drohendem Zusammenbruch zu bewahren, wurde der innere Schurzmechanismus unbewusst eingeschaltet, der eine Ausweichung von dem für Vitruv unlösbaren aber wirklichen Problem der fremden Einstellungen zu Kunst und Leben mittels dessen Unterschiebung durch ersonnenes Problem der angeblichen Dummheit der Künstler und Zuschauer gewährleistete. date: 2007 type: Article type: info:eu-repo/semantics/article type: NonPeerReviewed identifier: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/306/ format: application/pdf identifier: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdokhttps://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/306/1/Taruashvili_2007.pdf identifier: urn:nbn:de:bsz:16-artdok-3067 rights: info:eu-repo/semantics/openAccess language: ger