TY - JOUR AV - public UR - https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/4925/ N2 - Der Aufsatz schlägt vor, im Garten der Lüste von Hieronymus Bosch ein Rad der Sinne sowie ein "Verhaltensgebot" zu erkennen. Damit wäre das Bild als eine spielerische Sinnestheorie mit moralisch-didaktischer Geste zu verstehen. In den Fruchthüllen unten links im Vordergrund der Mitteltafel, in denen Figuren essen, sich umarmen usw., ist ein 5-teiliges "Rad der Sinne" versteckt. Es ist kein "normaler" Sinnenkreis, sondern ein moralisch bewertetes Sünden-Sinnen-Rad. Von der Mitte aus, wo eine Ente pseudo-liturgisch einen Mann füttert (Geschmack) geht es nach links zum Griff zum Kinn mit angedeutetem Kuss und zum gestochenen Finger (Tastsinn). Dann weiter zur durchsichtigen Hülle. Die Kugeln am Stengel sind so gesehen von anatomischen Abbildungen der Augenkugel am Sehnerv abgeleitet (Sehsinn). Es folgt weiter im Uhrzeigersinn eine Kugel mit Fäulnisbewuchs und überreifen Früchten auf dem Wasser (Geruch). Die fünfte Station ist die Folge des Sinnenmissbrauchs bis hierher, das Nicht-Hören, in der bleichen Fruchtschale neben dem roten Zelt. Es lässt sich zeigen, dass das Sinnen-Rad nicht klassisch nach der jeweiligen Reichweite der Sinnesleistungen, sondern nach religiösen Kriterien geordnet ist und den Missbrauch summiert. Zum Beispiel sind die beiden "untersten" Sinne Geschmacksinn und Tastsinn als die beiden größten und gleichsam als Basis angeordnet, und der verrufene Tastsinn wurde noch einmal ein Stück näher an die Betrachter gerückt. Wie Adam im Paradies Gott anschaut ? das Vorbild christlichen Verhaltens "im Angesicht" Gottes ? wird durch das Sehen des Mannes in der gläsernen Kugel (auf die Frau) persifliert. Über die Indizien an den 5 Stationen hinaus liefert die Mitte, die Nabe, die Bestätigung für das Sinnenrad. Nach der vorherrschenden Sinnestheorie um 1500 wurden die äußeren Sinne angeleitet, kontrolliert, systematisiert von einem der inneren Sinne, meist vom sensus communis. Dieses Zentrum der Sinne ist hier der Muschel-Träger mit dem Paar darin. Die Meldungen der Sinne führen also zum ? so wäre es zu imaginieren ? kopulierenden Paar. Eine Seele, die ihre Sinne so missbraucht wie hier im Sinnenrad geschieht, kann nur so enden wie der Baummensch in der Hölle ? was durch die parallelen Formen und Handlungen zwischen Muschelträger und Baummensch zum Ausdruck gebracht ist. Das "Verhaltensgebot", das als isolierte Szene auch eine "Verstehensanweisung" für das gesamte Bild ist, wird durch drei Männer an der unteren Bildkante formuliert. Sofort fallen durch die Parallelchoreographie die Rückenbögen zweier der Männer auf. Sie sind ebenso gebeugt, wie der Bogen der Muschel des Muschelträgers und der Bogen des Eikörpers des Baummenschen verlaufen. Der aufrechte Mann zwischen ihnen dagegen nimmt die gleiche vorbildliche Haltung wie Adam ein. Diese Dreiergruppe wird als Gegensatz zwischen der recto intentio des mittleren Mannes und den anderen beiden als homo curvatus verstanden. Als curvatus verstanden Kirchenlehrer und Interpreten von Augustinus bis Luther den irdischen Menschen, der sich von den himmlischen Dingen abgewendet und den weltlich-sinnlich-irdischen zugewendet, "hingebeugt", habe. Was bereits in ihren Körperhaltungen zum Ausdruck gebracht ist, bestätigt ihr "Essverhalten". Der aufrechte Mann hält eine sehr kleine Frucht in der Hand, die beiden anderen machen sich an riesigen Früchten zu schaffen. Die beiden gebeugten Männer schlagen ihre Zähne in die Objekte ihrer Begierde bzw. träumen davon, es zu tun ? denn der vordere der Gebeugten hat nur noch Vertrocknetes zur Verfügung. Das "Verhaltensgebot" der drei Männer gibt somit auch eine "Leseanweisung"? für das gesamte Bild vor. Von den gebeugten Rücken zweier der Männer her, die in den Bögen des Muschelträgers und des Eis beim Baummenschen wiederkehren, ist es unmöglich, dass das Essen der Früchte im Bild neutral oder gar positiv bewertet ist. Den Garten der Lüste in der skizzierten Weise zu lesen, legt weitreichende Konsequenzen für die Interpretation des Bildes nahe. Es ist alles andere als ein überfülltes Wimmelbild. Es öffnet sich viel detaillierter als bisher analysiert und auch in eine bisher nicht vermutete Richtung. Der Garten der Lüste erteilt ein konkret auf die Sinne gemünztes Verhaltensgebot, und zwar anhand einer spielerischen Sinnestheorie. A1 - Michael, Meinhard ID - artdok4925 TI - Hüte deine Seele! Die Fünf Sinne und ein Verhaltensgebot im Garten der Lüste von Hieronymus Bosch Y1 - 2017/// ER -