title: Der Architekt von Rapallo : der deutsche Diplomat Ago von Maltzan im Kaiserreich und in der frühen Weimarer Republik creator: Joeres, Niels subject: 320 subject: 320 Political science description: Aktuelle Kontaktdaten des Verfassers: Dr. Niels Joeres, Jettenburger Str. 9, 72770 Reutlingen, Tel. +49 151 1670 1899, E-Mail: n.joeres@googlemail.com Die Bewertung des deutsch-russischen Vertrages von Rapallo (16. April 1922) gehört zu den großen Kontroversen der Zeitgeschichte. Die bisherige Forschung hat sich im Rahmen der Interpretation des berühmten wie berüchtigten historischen Ereignisses vielfach auf eine starke Negativrolle des vermeintlich „so konservativen“ deutschen Diplomaten Ago von Maltzan (1877-1927) berufen. Nach einem seit 1969/70 vorherrschenden Paradigma habe Maltzan mit Rapallo offensiv gegen den ‚Westen’ bzw. Polen ausgerichtete Großmachtpolitik führen oder, nach einem alternativ konkurrierenden, seit den 1950er Jahren vertretenen Deutungs¬grundmuster, Gleichgewichtspolitik in einem traditionell machtpolitisch ambitionierten Sinne betreiben wollen. In jedem Fall habe er damals, während der laufenden Weltwirtschafts¬konferenz in Genua (10. April bis 22. Mai 1922), seinen eigenen Außenminister, den Verständigungspolitiker Walther Rathenau, mit geradezu betrügerisch anmutender Verschlagenheit zur Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages gedrängt. Die vorliegende Heidelberger Dissertation hinterfragt sowohl die gängige, spektakuläre Dämonisierung des Diplomaten als auch die historischen Grundlagen für den raunenden Mythos, der mit dem Vertrag in der Geschichte der Internationalen Beziehungen einhergeht. Der Weg nach Rapallo wird umfassend historisiert und entmystifiziert - erstmalig mittels des biographischen Zugriffs auf den entscheidenden Akteur sowie auf der Grundlage einer multiperspektivisch erweiterten Quellenbasis, die über die der bisherigen wissenschaftlichen Zeitgeschichtsschreibung entscheidend hinausragt. Einige zentrale Ergebnisse lauten vorab wie folgt: Im Gegensatz zur bisherigen Auffassung gehörte Maltzan bereits im Kaiserreich eher zu den progressiven, verständigungsorientierten Elementen im Auswärtigen Amt. Er blicke vor 1918/19 in dieser Hinsicht auf zahlreiche Konflikte mit der außenpolitischen und militärischen Führung zurück. Das bisherige, in mehrfacher Hinsicht schiefe Rapallo-Bild aber ist nicht nur mit einem noch schieferen Maltzan-Bild begründet worden. Ein weiterer Erkenntnisgewinn liegt darin, dass der Entstehungszeitpunkt des Vertrages überdies seinerzeit tatsächlich in erster Linie eine defensiv ausgerichtete Verteidigung berechtigter finanzieller Interessen Deutschlands in der russischen Frage darstellte. Sie wurde von Außenminister Rathenau, Reichskanzler Wirth, Ministerialdirektor Maltzan und dem späteren langjährigen Leiter der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt, Friedrich Gaus, gemeinsam getragen und nachfolgend ausführlich und im Ganzen gesehen auch sachlich zutreffend begründet. Rapallo kam in einer diplomatischen Ausnahmesituation zustande, in der alle großen Mächte bis zur letzten Minute ‚pokernd’ ihre nationalen Interessen durchzusetzen versuchten. Die Dramatik der Geschehnisse war auf die Konferenzregie der alliierten Hauptmächte, vor allem Englands und Italiens, zurückzuführen. Denn die maßgeblichen Vertreter der Entente führten seit dem 14. April 1922 außerhalb der Konferenzagenda ganztätig andauernde Separatverhandlungen mit der sowjetrussischen Delegation, von denen die deutschen Delegierten ausgeschlossen wurden. Insbesondere der britische Premier, Lloyd George, und der französische Delegationsleiter, Louis Barthou, forderten von Volkskommissar Tschitscherin die sofortige Unterzeichnung des sog. ‚Londoner Memorandums’. Und der Verlauf dieser Vertragsverhandlungen veranlasste Tschitscherin dann am Abend des 15. April 1922 zu der Empfehlung an seine Regierung in Moskau, eine modifizierte Form des alliierten Vertragsentwurfs mit den Ententemächten durchaus zu erwägen. Aus deutscher Sicht hätte eine solche Einigung zusätzlich Russland in das durch den Versailler Vertrag geschaffene Schuldner- und Gläubigersystem eingebunden. Die erste deutsche Demokratie würde, so die von Maltzan in Genua gegenüber maßgeblichen britischen Akteuren vorgetragene Sorge, nach der Kette außenpolitischer Niederlagen seit 1919, nunmehr noch weiteren destabilisierenden Belastungen ausgesetzt. Es kam mehrfach zu Gerüchten, die darauf hindeuteten, dass eine Einigung zwischen der Entente und Sowjetrussland auf Kosten Deutschlands schon vollendete Tatsache sei bzw. unmittelbar bevorstände. Eine den deutschen Akteuren unbekannte telegraphische Weisung des ZK in Moskau in der Nacht vom 15. auf den 16. April 1922, vertragsabschlussorientierte Verhandlungen mit den Alliierten sofort abzubrechen, schloss eine unmittelbare Einigung zwischen den Ententemächten und Sowjetrussland dann allerdings aus. Die Regierung Lenins befürwortete allenfalls die Unterzeichung eines Vertrages mit Deutschland, der bereits seit Januar 1922 federführend von Maltzan inhaltlich ausgehandelt und Anfang April 1922 in Berlin auch zwischen Rathenau und Tschitscherin weithin übereinstimmend diskutiert worden war. Nach weiteren bilateralen Verhandlungen in der temporären Residenz der sowjetrussischen Delegation (dem Imperiale Palace Hotel im seinerzeit zu Rapallo gehörenden Santa Margherita Ligure), wurde der vorbereitete Vertrag zwischen der deutschen Regierung und der Regierung der RSFSR tags darauf, am Ostersonntag 1922, von Rathenau und Tschitscherin unterzeichnet. Seine wesentlichen Grundzüge waren unter anderem dem britischen und französischen Botschafter in Berlin seit Februar 1922 bekannt und dem Inhalt nach objektiv nicht zu beanstanden. Der Vertrag ging über eine in der Sache sehr begrenzte deutsch-russische Interessenidentität ohne politische Nähe geschweige denn Intimität nicht hinaus. Er vertagte ungelöst zudem selbst einige wichtige finanzielle Fragen der Vergangenheit im deutsch-russischen Verhältnis und beschränkte sich im Ganzen recht inhaltsarm schließlich sogar auf deklaratorische Absichtserklärungen. Für die deutsch-russischen Beziehungen, die auch nachfolgend enttäuschend verliefen und zutiefst von gegenseitigem Misstrauen bestimmt waren, legte er allenfalls ein grob wirkendes, unausgefülltes Fundament. Mit dem Vertragsabschluss am Ostersonntag 1922 hatte die deutsche Außenpolitik und Diplomatie nichtsdestotrotz ein gravierendes ‚PR-Problem’, was nicht zuletzt auch auf einige Defizite in der Öffentlichkeitsarbeit bzw. politischen Kommunikation der Führung der deutschen Delegation auf der Konferenz von Genua zurückzuführen war. Insbesondere französische Medien und Regierungsvertreter konnten die „Bombe von Rapallo“ zwar nur für wenige Wochen mehr oder weniger erfolgreich instrumentalisieren. Die eingesetzte Legendenbildung aber schnitt in das zeitgenössische kollektive Gedächtnis und – nach 1945 im Kalten Krieg wiedergeboren – schließlich ebenso in das generationenübergreifende kulturelle Gedächtnis ein. date: 2005 type: Dissertation type: info:eu-repo/semantics/doctoralThesis type: NonPeerReviewed format: application/pdf identifier: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserverhttps://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/6751/1/Pflichtveroeffentlichung.pdf identifier: DOI:10.11588/heidok.00006751 identifier: urn:nbn:de:bsz:16-opus-67514 identifier: Joeres, Niels (2005) Der Architekt von Rapallo : der deutsche Diplomat Ago von Maltzan im Kaiserreich und in der frühen Weimarer Republik. [Dissertation] relation: https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/6751/ rights: info:eu-repo/semantics/openAccess rights: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/help/license_urhg.html language: ger