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Reflexionen über die Liebe. Jan Vermeers Mädchen mit dem Weinglas im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig. - [Originalmanuskript]

Fassbinder, Horant

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PDF, German
Download (5MB) | Lizenz: Creative Commons LizenzvertragReflexionen über die Liebe. Jan Vermeers Mädchen mit dem Weinglas im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig. - [Originalmanuskript] by Fassbinder, Horant underlies the terms of Creative Commons Attribution - ShareAlike 4.0

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Abstract

Thema der Arbeit ist die Analyse eines unumstritten von der Hand Vermeers stammenden, um 1660 gemalten, heute im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig hängenden Gemäldes, das dort als "Mädchen mit dem Weinglas" bezeichnet wird. Wie so viele andere Bilder mutierte auch dieses im Zuge des emblematic turn der Kunstgeschichte zu einem Medium moralischer Warnung. Die Hauptperson wurde zu einer von zwei Dandys besuchten „Dame von zweifelhaftem Ruf“, während allen Dreien eine in der Glasmalerei des Fensters versteckte temperantia ihren Maßhalteappell zurief. Die malerischen Eigenschaften des Bildes interessierten bestenfalls am Rande. Im Gegensatz dazu geht die vorliegende Untersuchung von der visuellen Analyse des Gemäldes aus. Sie arbeitet die bildimmanente Bewegung heraus, die dem Strom des Lichtes folgend von links oben in die diagonal gegenüber liegende Bildhälfte führt, um dort aufgefangen und in die Faltenlandschaft des roten Satin transformiert zu werden. Diese Bewegung verläuft nicht geradlinig und ruhig, sondern über Barrieren und Sprünge hinweg, nicht im gleichmäßigen Fließen, eher in Kaskaden und Wirbeln. Kunstvoll verknüpft Vermeer die Bildelemente in einer dynamischen coniunctio oppositorum, die ebensosehr Verbindungen wie zugleich Spannung, Sperren und Brüche zwischen den Elementen formuliert. In einem zweiten Schritt wird die Szene im Kontext der gesellschaftlichen Schicht und der sozialen Normen der dargestellten Personen interpretiert. Das Ergebnis ist, dass wir hier eine ganz normale Werbungsszene vor uns haben, deren revolutionärer Zug allerdings darin besteht, dass die Umworbene den üblichen Gang der Ereignisse unterbricht, indem sie sich lachend aus dem Bild wendet. Vermeer billigt der noch sehr jungen Frau visuell und szenisch eine Kraft und Handlungsfähigkeit zu, an die seine späteren Konstruktionen von autonomer Weiblichkeit anknüpfen werden. Es zeigt sich, dass die formalen und inhaltlichen Elemente des Gemäldes aufs engste aufeinander bezogen sind. Die beiden Leitthemen sind - verkürzt gesagt - Verbindung und Unterbrechung sowohl auf rein visueller wie auf szenischer Ebene. Von Moralpredigt findet sich keine Spur, eher umgekehrt ein Plädoyer für die Eroberung eines Möglichkeitsraumes weiblichen Verhaltens jenseits der durch die Konvention gesetzten Grenzen - in Parallele gesetzt zu einem Möglichkeitsraum des beweglich strömenden Lichts. Vermeer zwingt den Betrachter zu aktiver Teilnahme am Bildgeschehen, indem er - ihn fesselnd durch die Licht-Ereignisse - ihn zugleich dazu zwingt, nachzusinnen über die möglichen Ursachen und Konsequenzen der Unterbrechung der Szene durch die junge Frau (oder den Betrachter selbst?). Dabei zeigt sich Vermeer auch von seiner weniger bekannten Seite als warmzherzig-humorvoller Beobachter aufs Sorgfältigste konstruierter visueller Phänomene und menschlicher Verhaltensweisen. Mit einem Hauch von Ironie spielt er mit emblematischen Bezügen, die freilich im Bildzusammenhang nur eine Randrolle einnehmen. Der Text ist die schriftliche, mit Anmerkungen und Belegen versehene Fassung eines Vortrages aus dem Jahre 2007, erschienen 2010 in dem von Victoria von Flemming und Alma-Elisa Kittner herausgegebenen Sammelband "Barock - modern?", Salon-Verlag, Köln.

Translation of abstract (English)

The subject of the text is a painting by Johannes Vermeer van Delft, unanimously dated around 1660, since centuries in the collection of the Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig with the title "The Girl with the Wineglas". During the emblematic turn of art history as so many other pictures this one too became a moral warning. The main person was declared a woman of ambigous behaviour, the men were deciphered as seductive dandies. The temperantia in the glass of the window reminded all of them not to leave the path of virtue. As a painting the picture was hardly of any interest. In opposition to this method the study presented here starts by a careful investigation into the visual construction of the painting. It follows the diagonal flow of light from the upper left corner to the landscape of the red satin, where the movement is finally absorbed and calmed down. On its way Verrmeer constructs barriers, cascades and vortices. Vermeer connects and at the same time opposes and interrupts the pictural elements creating suspense and tension in a dynamic coniunctio oppositorum. In a second step the scene is interpreted in the light of the social stratum and conventions of its "inhabitants". The result is, that the story Vermeer tells us is a normal wooing scene - yet with one great exception: The young woman has turned away from her suitor and is laughing towards us, the viewer. Thus the painter gives her the power to interrupt the normal course of events prescribed by customs. Acting on her own account she anticipates Vermeer‘s later constructions of autonomous femininity. Form and content of the picture are closely related. The main themes are - in short - connection and interruption on the visual as well as on the scenic proceedings of the picture. There is no moral preaching. On the contrary the picture is rather a plea for the conquest of female potentials beyond restrictive conventions - a plea that is paralleled by the potential of the light to move, to accentuate or to hide. Vermeer compels the viewer to actively participate in the proceedings of the picture - overwhelming him by the events produced by the light and at the same time forcing him to invent possible interpretations and continuations of the "story". Last not least Vermeer here also shows his less known side as a warm-harted humorous observer of carefully constructed visual phenomena and human behavior. With a soupçon of irony he plays with emblematic references without giving them too much importance in the given context. The text was first presented as a lecture in 2007 and then published with annotations and references in the anthology „Barock - modern?“, edited by Victoria von Flemming and Alma Elisa-Kittner, Salon-Verlag Cologne 2010.

Document type: Article
Date: 2007
Version: Secondary publication
Date Deposited: 22 Jan 2018 15:05
Faculties / Institutes: Research Project, Working Group > Individuals
DDC-classification: Painting
Controlled Keywords: Vermeer van Delft, Jan / Mädchen mit dem Weinglas
Subject (classification): Artists, Architects
Iconography
Countries/Regions: Benelux
Additional Information: Hier veröffentlicht ist der Text des Originalmanuskripts, dessen Grundlage ein Vortrag des Verfassers vom 27.04.2007 ist. Der gedruckte Buchbeitrag erschien mit gleichem Titel in: Flemming, Victoria von (Hrsg.): Barock - modern? Köln 2010, S. 184-242